wuestensoehne [Einschulungsfeier 1951 - 2011]

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Wüstensöhne werden Wissenschaftler

Am Anfang des 7. Jahrhunderts erhoben sich die bis dahin unbe-
kannten Beduinen, um aus glühender Begeisterung zu ihrer neuen
Religion die Welt für diese ZU erobern. In unerhört kurzer Zeit unter-
warfen sie nicht nur die Nachbarvölker, sondern errichteten ein
Riesenreich. Noch keine hundert Jahre vergingen seit dem Tode des
Propheten, und seine Nachfolger beherrschten die. Länder bis zum
Indus, Persien, Mesopotamien und Syrien,. dann den afrikanischen
Küstenstrich von Ägypten bis hinauf nach Spanien.
So gewaltig war die Expansivkraft, welche die Lehren MOHAM-
MEDs seinen Stammsbrüdern verliehen. Nach einiger Zeit, mußte
diese Kraft nachlassen, denn Religionen sprechen nicht jeden gleich-
mäßig an: so wie sich die Menschen ändern, entgleiten sie allmählich
der religiösen Beeinflussung mit allen ihren Segen und Schäden.
Warum macht man sich darüber Gedanken, ob der Mensch in die
Knechtschaft der von ihm erdachten Maschine gerät? Bestand diese
Gefahr nicht von jeher für Religionen? Der Mensch schuf ja die
Götter nach seinem Ebenbild. Deshalb waren diese in Hellas un-
berechenbar wie Kinder, aber unternehmend wie die Griechen selber.
Zum Glück erwies sich die Natur stärker, als das Machwerk, und so
gestaltete sich der Islam nachgiebiger als es den Absichten seines
Schöpfers entsprach, die sich übrigens schwer miteinander in Ein-
klang bringen lassen.

Im Jahre 762 gründeten die Abbasiden am Ufer des Euphrat eine
neue Stadt, Bagdad, in die sie ihren Sitz verlegten. Die geogra-
phischie Lage prädestinierte Bagdad geradezu, Treffpunkt griechi-
schen und indischen Wissens zu sein. Anfangs wurde aus beiden
Quellen eifrig geschöpft, öhne diese gegeneinander abzugrenzen. Wir
wissen, die Inder machten keinen Unterschied zwischen Zahl und
Größe, im Gegensatz zu den kritischeren Griechen. Erst die neuere
Zeit konnte mit diesem tiefgehenden Unterschied endgültig auf-
räumen, nachdem es gelang, die irrationalen Zahlen befriedigend zu
erklären. Die Araber vermochten das noch nicht.

An der Entwicklung der arabischen Mathematik läßt sich das gut
verfolgen. Unter dem Sohn des aus den Märchen der Tausend und
einen Nacht bekannten HARUN AL RASHID verfaßte AL CHWARIzMI
zunächst ein Lehrbüch der Arithmetik. In diesem lehrte er die indische
Art des Rechnens. Diese bürgerte sich ein, denn zwei Jahrhunderte
später berichtete AVICENNA, er habe sie als kleiner Junge bei einem
Gemüsehändler erlernt. Die Bezeichnung Algorithmus dafür ent-
stand dann durch Latinisierun des Namens AL CHWARZIMIs, der
etwas später, um 820, ein zweites Lehrbuch und zwar über Algebra
schrieb. Dies führtr die beiden Worte Aldschebr walmukabala als
Titel, deren erstes dann der ganzen Kunst den Namen gab.

Das erste Wort bedeutet Wiederherstellung und meint, eine
Gleichung so zu ordnen, daß auf beiden Seiten nur positive Glieder
vorkommen. Auf die Gleichung X² + 3x —3 = 5x angewandt, ergibt
das x² + 3x = 5x + 3. Das zweite Wort des Buchtitels bedeutet Gegen-
überstellung und verlangt, Glieder gleicher Art wegzulassen. Auf
diese Weise geht aus der letzten die neue Gleichung x² = 2x + 3
hervor.

Der Verfasser findet es nicht der Mühe wert, die Bedeutung der
beiden eben erklärten Ausdrücke auch nur zu streifen, ein Zeichen,
wie geläufig diese seinen Landsleuten sein mußten. Das läßt auf
griechische Quellen schließen, denn den Indern konnte nichts daran
liegen, negative Glieder fortzuschaffen.



Die Araber lernten aber auch von den Indern, denn sie kannten
beide Wurzeln einer quadratischen Gleichung, während DIOPHANT
stets nur eine berücksichtigte.



Wir greifen auf die Algebra AL CHWARIZMIS nochmals zurück. Sie
machte 1eider keinen Gebrauch von dem indischen Fortschritt in der
Zeichensprache. Die Unbekannte wurde schai, Sache, genannt. Die
Spanier übernahmen den ersten Laut dieses Wortes und schrieben ihn
in der landesüblichen Orthographie als x.1) Die anderen abendlän-
dischen Mathematiker lasen dieses x als Buchstaben ihres eigenen
Alphabets. So entstand die heutige Bezeichnung für die Unbekannte.

Eigene Leistungen haben die Araber auf diesem Gebiet kaum auf-
zuweisen. Ihr beweglicher Geist richtete sich mehr auf nützliche als
auf spekulative Gegenstände. reine Forschung als SelbstLweck reizte
sie wenig. Wohl aber betätigten sie sieh als Übersetzer griechischer
und indischer Schriften und erwarben sich damit als Vermittler
dieses Wissens Verdienste um das Abendland.

Wir möchten diese Ausführungen nicht abschließen, ohne ein Be-
denken geäußert zu haben. Unter den Kalifen besaß jeder Fremde die
Möglichkeit, zum Islam überzutreten, und erlangte damit Bürger-
rechte. Der Sohn konnte sogar in die Stammesgemeinschaft auf-
genommen werden und galt dann als echter Araber. Der Assimi-
lationsprozeß verlief viel zu schnell, um von einem einheitlichen
Volk reden zu können. Deshalb ist es nicht sonderlich aufschlußreich,
diesen oder jenen zu den arabischen Mathematikern zu rechnen. Viel-
mehr mußten eingehende Untersuchungen über seine Herkunft an-
gestellt werden, die begreiflicherweise ausstehen. Dies scheint mir
einen bedauerlichen Mangelsn der Abrudung des Bildes arabischer
Mathematik zu bedeuten.

(Aus: Eingefangenes Unendlich, Von Franz von Krbek, Leipzig 1954)

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1) Bemerkung Ulrich Z.: Mexiko sprich Mechiko!