jfest [Einschulungsfeier 1951 - 2011]

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Gudrun 14. 07. 2011: Uli Du hast wirklich recht, es ist ein sehr lesenswertes Buch und ich empfehle es auch zumindest jedem Karlshorster und auch ehemaligen Karlshorstern!


Joachim Fest:" Ich nicht, Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend"

Auszüge aus dem 1.Kapitel "Wie alles zusammenkam"

Rowohlt Taschenbuchverlag, 4. Auflage 2010, ISBN 978 3 499 62396 7

Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, lautet Erinnerung. Die
Mehrzahl der Erlebnisse und Erfahrungen meines Daseins sind,
wie bei jedem, ins Vergessen zurückgefallen. Denn das Gedächtnis
ist unausgesetzt dabei, das eine auszusondern, anders an dessen
Stelle zu rücken oder durch neue Einsichten zu überlagern. Der
Prozeß hat kein Ende; blicke ich die lange Strecke zurück, drängt
eine Flut von Bildern heran, alle wirr und zufällig. Im Augenblick
des Geschehens verband sich kein Gedanke damit, und erst nach
Jahren gelangte ich dazu, die verborgenen Wasserzeichen in den
Lebenspapieren zu entdecken und womöglich zu lesen.

Aber selbst dann noch schieben die Bilder sich, zumal für die
frühen Jahre, nach vorn: das Haus1) mit dem wildnishaften, später
vom Ordnungssinn der Eltern zu unserem Kummer entfernten
Gestrüpp an den Seiten; das Krebsefangen in der Havel; das ge-
liebte Kindermädchen Franziska, das eines Tages in seine Lausit-
zer Heimat zurückmußte; die Lastwagen, die mit einer knallenden
Fahne durch die Straßen jagten und von grölenden Uniformleuten
besetzt waren; die Ausflüge nach Sanssouci oder Gransee, wo mein
Vater uns von einer preußischen Königin erzählte, bis er uns zu
langweilen begann. Unvergessen alles. Und wer von uns Kindern
zehn Jahre alt war, wurde jeweils an einem Sonntag im Sommer,
wenn die Musikkapelle spielte und vor dem “Kaiserpavillon” die
meist zweirädrigen Adelsgespanne herumstanden, zur Rennbahn
mitgenommen. Sie war, wie Karlshorst im ganzen, aus dem abgele-
genen Treskowschen Vorwerk von meinem Großvater weiterent-
wickelt worden und später zum Ruf der größten Hindernisbahn
des Landes gelangt. Wie gestern sehe ich das Defilee der riesigen
Pferde mit den kleinen, seidenbunten Männern im Jockeydreß
sowie die feierlich stolzierenden Herren im mausgrauen Cut mit
Schleifen am Hals und gewölbten Steifbrüsten. Die Damen hin-
gegen blieben meist unter sich und betrachteten einander lauernd
im Schatten rädergroßer Hüte: ob vielleicht ein Rivalin zu entdecken
und mit einer vernichtenden Bemerkung zu erledigen sei.

Nach Berlin war der Großvater2) gelangt, als 1890 der aufsehener-
regende Mord des Ehepaars Heinze an einem vermögenden Haus-
besitzer, nach einer anderen Version allerdings an einem Fräulein
von der Inneren Missionoder, nach der wahrscheinlichsten Über-
lieferung an einer Prostituierten verübt worden war. Da die Hein-
zes, deren Untat von meinem Großvater und vielen anderen oft mit
den Morden Jack the Rippers verglichen wurde, im anschließenden
Prozess aussagten, sie hätten den Mord vor allem begangen, um
auf die schreiende Wohnungsnot in Berlin aufmerksam zu machen,
hatten sich zwei und später drei Gruppen wohlhabender Familien
zu philanthropischen Siedlungsgesellschaften zusammengetan, die
größte auf Anregung des Kammerpräsidenten Dr.Otto Hentig und
unter der Federführung des Fürsten Karl Egon zu Fürstenberg. Ihr
gehörten die Treskows an, die seit 1816 im nahen Friedrichsfelde
residierten, sowie August von Dönhoff, die Lehndorffs und ähn-
lich angesehene Familien. Auch der weithin bekannte Architekt
Oscar Gregorovius zählte in der Gründungszeit dazu, desgleichen
etwas später der berühmte Baumeister Peter Behrens

Im Mai 1895 unterzeichnete der zuständige Landrat den soge-
nannten Siedlungskonsens über das 600 000 Quadratmeter große
Vorwerk Carlshorst, und unmittelbar darauf setzte eine Art Wett-
lauf um möglichst ansehnliche Parzellenstücke ein. Die philan-
thropische Gesellschaft des Fürsten zu Fürstenberg erwies sich
als allen Konkurrenten überlegen und berief meinen damals sie-
benundzwanzig jahre alten Großvater zum Geschäftsführer. Seine
Aufgabe bestand darin, das erworbene Gelände in Zusammenar-
beit mit Oscar Gregorovius und den Behörden als Vorort herzu-
richten, die Straßenverläufe festzulegen, die Grundstücke zu par-
zellieren und zu erschwinglichen Preisen zu verkaufen. Mit jedem
Zuwachs kam ein neues Viertel hinzu: Es gab die Adelsstraßen, das
rheinische, das Sagen- sowie das Wagnerquartier und so Schritt
für Schritt weiter.
Mein Großvater bewältigte seine Aufgabe mit großem Geschick,
erkannte aber frühzeitig, daß der Ort über die beschaulichen
Wohnverhältnisse hinaus, die Karlshorst bis in meine Jugendjahre
besaß, einige Anziehungspunkte aufweisen müsse. So kamen ein
Krankenhaus, eine protestantische und eine katholische Kirche
und ein kleiner Park mit einem Seestück dazu, der über einem ehe-
mals sumpfigen Gelände angelegt wurde und bald Spaziergänger
von weit anlockte. Auch die Treskowsche Rennstrecke wur-
de mit Umsicht zum Zentrum eines gesellschaftlichen Ereignisses
ausgebaut. In späteren Jahren und eigentlich schon nach der Zeit
meines Großvaters gelangte sogar eine Militärschule nach Karls-
horst. Am Ende zählte das “Kümmernest”, wie er gern sagte, oder
die “öde Sandheide”, wie es in einem amtlichen Papier hieß, die bei
seiner Ankunft aus acht Häusern oder eigentlich Höfen mit nicht
einmal einhundert Ansässigen bestanden hatte, weit über 30 000
Bewohner.

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